Die größte Atomkatastrophe der Geschichte ereignete sich vor über 30 Jahren im Kernkraftwerk Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion. Durch die Kernschmelze, die Explosionen und den 10 Tage lang brennenden Atombrand gelangten enorme Mengen an Radioaktivität in die Atmosphäre und verseuchten weite Teile Europas und Eurasiens. Die Internationale Atomenergiebehörde schätzt, dass durch Tschernobyl 400-mal mehr Radioaktivität in die Atmosphäre gelangte als durch den Bombenabwurf auf Hiroshima im Jahr 1945.
Radioaktives Cäsium aus Tschernobyl lässt sich noch heute in einigen Lebensmitteln nachweisen. Und in Teilen Mittel-, Ost- und Nordeuropas enthalten viele Tiere, Pflanzen und Pilze immer noch so viel Radioaktivität, dass sie für den menschlichen Verzehr unsicher sind.
Die erste Atombombe explodierte vor mehr als 70 Jahren in Alamogordo, New Mexico. Seitdem wurden mehr als 2.000 Atombomben getestet, die radioaktive Stoffe in die Atmosphäre abgaben. Und über 200 kleinere und größere Unfälle haben sich in Atomanlagen ereignet. Doch noch immer streiten sich Experten und Interessengruppen heftig über die gesundheitlichen und ökologischen Folgen der Radioaktivität.
Im letzten Jahrzehnt haben Populationsbiologen jedoch erhebliche Fortschritte bei der Dokumentation der Auswirkungen von Radioaktivität auf Pflanzen, Tiere und Mikroben gemacht. Meine Kollegen und ich haben diese Auswirkungen in Tschernobyl, Fukushima und natürlich radioaktiven Regionen der Erde analysiert.
Unsere Studien liefern neue fundamentale Erkenntnisse über die Folgen einer chronischen, generationenübergreifenden Exposition gegenüber niedrig dosierter ionisierender Strahlung. Am wichtigsten ist, dass wir herausgefunden haben, dass einzelne Organismen durch Strahlung auf vielfältige Weise geschädigt werden. Die kumulativen Effekte dieser Schädigungen führen zu geringeren Populationsgrößen und reduzierter Biodiversität in stark verstrahlten Gebieten.
Auswirkungen in Tschernobyl
Die Strahlenbelastung hat bei vielen Organismen in der Tschernobyl-Region genetische Schäden und erhöhte Mutationsraten verursacht. Bisher haben wir wenig überzeugende Beweise dafür gefunden, dass sich viele Organismen dort entwickeln, um resistenter gegen Strahlung zu werden.
Die Evolutionsgeschichte von Organismen kann eine große Rolle dabei spielen, wie anfällig sie für Strahlung sind. In unseren Studien gehören Arten, die in der Vergangenheit hohe Mutationsraten aufwiesen, wie die Rauchschwalbe (Hirundo rustica), die Klappergrasmücke (Hippolais icterina) und die Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla), zu den Arten, die in Tschernobyl am ehesten Populationsrückgänge aufweisen. Unsere Hypothese ist, dass sich die Arten in ihrer Fähigkeit, DNA zu reparieren, unterscheiden, und dass dies sowohl die DNA-Substitutionsraten als auch die Anfälligkeit für die Strahlung von Tschernobyl beeinflusst.
Gleich den menschlichen Überlebenden der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki haben Vögel und Säugetiere in Tschernobyl Katarakte in ihren Augen und kleinere Gehirne. Dies sind direkte Folgen der Exposition gegenüber ionisierender Strahlung in Luft, Wasser und Nahrung. Wie einige Krebspatienten, die sich einer Strahlentherapie unterziehen, haben viele der Vögel missgebildete Spermien. In den am stärksten radioaktiv belasteten Gebieten sind bis zu 40 Prozent der männlichen Vögel während der Brutzeit völlig steril, ohne Spermien oder mit nur wenigen toten Spermien in ihren Fortpflanzungsorganen.
Tumore, vermutlich Krebsgeschwüre, sind bei einigen Vögeln in stark verstrahlten Gebieten zu beobachten. Ebenso wie Entwicklungsanomalien bei einigen Pflanzen und Insekten.
Angesichts der überwältigenden Beweise für genetische Schäden und Verletzungen von Individuen ist es nicht überraschend, dass die Populationen vieler Organismen in hochgradig kontaminierten Gebieten geschrumpft sind. In Tschernobyl waren alle wichtigen Tiergruppen, die wir untersuchten, in den stärker radioaktiv verseuchten Gebieten weniger häufig anzutreffen. Dazu gehören Vögel, Schmetterlinge, Libellen, Bienen, Heuschrecken, Spinnen sowie große und kleine Säugetiere.
Nicht jede Art zeigt das gleiche Muster des Rückgangs. Viele Arten, darunter Wölfe, zeigen keine Auswirkungen der Strahlung auf ihre Populationsdichte. Einige wenige Vogelarten scheinen in stärker verstrahlten Gebieten häufiger zu leben. In beiden Fällen können die höheren Zahlen die Tatsache widerspiegeln, dass es in hochradioaktiven Gebieten weniger Konkurrenten oder Fressfeinde für diese Arten gibt.
Außerdem sind weite Teile der Sperrzone von Tschernobyl derzeit nicht stark verstrahlt und scheinen vielen Arten ein Refugium zu bieten. Ein 2015 veröffentlichter Bericht beschreibt, dass Wildtiere wie Wildschweine und Elche im Tschernobyl-Ökosystem gut gedeihen. Aber fast alle dokumentierten Folgen der Strahlung in Tschernobyl und Fukushima haben ergeben, dass einzelne Organismen, die der Strahlung ausgesetzt sind, ernsthafte Schäden erleiden.
Es kann Ausnahmen geben. Zum Beispiel können Substanzen, die als Antioxidantien bezeichnet werden, Schäden an DNA, Proteinen und Lipiden abwehren, die durch ionisierende Strahlung verursacht werden. Die Menge an Antioxidantien, die Individuen in ihrem Körper zur Verfügung haben, kann eine wichtige Rolle bei der Reduzierung der durch Strahlung verursachten Schäden spielen. Es gibt Hinweise darauf, dass sich einige Vögel an die Strahlung angepasst haben, indem sie die Art und Weise, wie sie Antioxidantien in ihrem Körper nutzen, verändert haben.
Parallelen in Fukushima
Wir testeten die Gültigkeit unserer Tschernobyl-Studien, indem wir sie in Fukushima, Japan, wiederholten. Der Stromausfall und die Kernschmelze in drei Atomreaktoren im Jahr 2011 setzte dort etwa ein Zehntel so viel radioaktives Material frei wie die Katastrophe von Tschernobyl.
Insgesamt haben wir ähnliche Muster des Rückgangs der Abundanz und Vielfalt von Vögeln gefunden, obwohl einige Arten empfindlicher auf die Strahlung reagieren als andere. Wir haben auch Rückgänge bei einigen Insekten, wie z.B. Schmetterlingen, gefunden, die möglicherweise die Anhäufung von schädlichen Mutationen über mehrere Generationen widerspiegeln.
Unsere Studien in Fukushima haben von anspruchsvolleren Analysen der Strahlungsdosen profitiert, die die Tiere erhalten haben. In einer Arbeit haben wir in Zusammenarbeit mit Radioökologen die Dosen rekonstruiert, die etwa 7.000 Vögel erhalten haben. Die Parallelen, die wir zwischen Tschernobyl und Fukushima gefunden haben, sind ein starker Beweis dafür, dass die Strahlung die Ursache für die Auswirkungen ist, die wir an beiden Orten beobachtet haben.
Einige Mitglieder der Strahlenschutzbehörden haben nur langsam erkannt, wie Atomunfälle der Tierwelt geschadet haben. Zum Beispiel hat das von den Vereinten Nationen gesponserte Tschernobyl-Forum die Vorstellung in die Welt gesetzt, dass der Unfall einen positiven Einfluss auf die Lebewesen in der Sperrzone hatte, weil es dort keine menschlichen Aktivitäten gab. Ein Bericht des Wissenschaftlichen Komitees der Vereinten Nationen über die Auswirkungen atomarer Strahlung aus dem Jahr 2013 prognostiziert minimale Folgen für die Tier- und Pflanzenwelt in der Region Fukushima.
Leider beruhen diese offiziellen Einschätzungen größtenteils auf Vorhersagen aus theoretischen Modellen, nicht auf direkten empirischen Beobachtungen der in diesen Regionen lebenden Pflanzen und Tiere. Aufgrund unserer und anderer Forschungen weiß man heute, dass Tiere, die in der Natur unter allen möglichen Belastungen leben, viel empfindlicher auf die Auswirkungen der Strahlung reagieren als bisher angenommen. Obwohl Feldstudien manchmal die kontrollierten Bedingungen fehlen, die für präzise wissenschaftliche Experimente notwendig sind, machen sie dies durch eine realistischere Beschreibung natürlicher Prozesse wett.
Unser Schwerpunkt auf der Dokumentation von Strahlungseffekten unter „natürlichen“ Bedingungen mit wilden Organismen hat viele Entdeckungen geliefert, die uns helfen werden, uns auf den nächsten nuklearen Unfall oder Akt des nuklearen Terrorismus vorzubereiten. Diese Informationen sind absolut notwendig, wenn wir die Umwelt nicht nur für den Menschen schützen wollen, sondern auch für die lebenden Organismen und die Ökosystemdienstleistungen, die alles Leben auf diesem Planeten erhalten.
Zurzeit sind weltweit mehr als 400 Kernreaktoren in Betrieb, 65 neue sind im Bau und weitere 165 in Auftrag gegeben oder geplant. Alle in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke erzeugen große Mengen an nuklearem Abfall, der noch für Tausende von Jahren gelagert werden muss. Angesichts dessen und der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Unfälle oder nuklearen Terrorismus ist es wichtig, dass Wissenschaftler so viel wie möglich über die Auswirkungen dieser Kontaminanten in der Umwelt lernen, sowohl für die Sanierung der Auswirkungen zukünftiger Vorfälle als auch für eine evidenzbasierte Risikobewertung und die Entwicklung der Energiepolitik.