Als sie 1923 das Denishawn-Establishment verließ, tat Graham dies mit dem Drang, den Tanz zu einer Kunstform zu machen, die mehr in der Rohheit der menschlichen Erfahrung verankert war, als eine bloße Form der Unterhaltung. Dies motivierte Graham, die eher dekorativen Bewegungen des Balletts und ihrer Ausbildung an der Denishawn-Schule abzustreifen und sich mehr auf die grundlegenden Aspekte der Bewegung zu konzentrieren.
1925 wurde Graham an der Eastman School of Music angestellt, wo Rouben Mamoulian Leiter der School of Drama war. Unter anderem produzierten Mamoulian und Graham gemeinsam einen kurzen zweifarbigen Film mit dem Titel The Flute of Krishna, in dem Eastman-Studenten zu sehen waren. Mamoulian verließ Eastman kurz darauf und Graham entschied sich, ebenfalls zu gehen, obwohl sie gebeten wurde, zu bleiben.
Im Jahr 1926 wurde das Martha Graham Center of Contemporary Dance gegründet, in einem kleinen Studio an der Upper East Side. Am 18. April desselben Jahres debütierte Graham mit ihrem ersten eigenständigen Konzert, bestehend aus 18 kurzen Soli und Trios, die sie choreografiert hatte. Diese Aufführung fand im 48th Street Theatre in Manhattan statt. Sie würde später über das Konzert sagen: „Alles, was ich tat, war von Denishawn beeinflusst.“ Am 28. November 1926 gaben Martha Graham und andere aus ihrer Kompanie ein Tanzkonzert im Klaw Theatre in New York City. Etwa zur gleichen Zeit begann sie eine längere Zusammenarbeit mit dem japanisch-amerikanischen Fotografen Soichi Sunami, und in den nächsten fünf Jahren schufen sie gemeinsam einige der ikonischsten Bilder des frühen modernen Tanzes. Graham gehörte zum Lehrkörper der Neighborhood Playhouse School of the Theatre, als diese 1928 eröffnet wurde.
Eine von Grahams Schülerinnen war die Erbin Bethsabée de Rothschild, mit der sie eng befreundet war. Als Rothschild nach Israel zog und 1965 die Batsheva Dance Company gründete, wurde Graham die erste Direktorin der Kompanie.
Grahams Technik führte im modernen Tanz ein Prinzip ein, das als „Contraction and Release“ bekannt ist und von einer stilisierten Auffassung der Atmung abgeleitet wurde.
Contraction and Release: Der Wunsch, einen grundlegenderen Aspekt der menschlichen Bewegung hervorzuheben, führte Graham zu dem „Contraction and Release“, für das sie bekannt werden sollte. Jede Bewegung konnte separat verwendet werden, um entweder positive oder negative, befreiende oder einschnürende Emotionen auszudrücken, abhängig von der Platzierung des Kopfes. Die Kontraktion und das Loslassen bildeten die Grundlage für Grahams gewichtigen und geerdeten Stil, der in direktem Gegensatz zu den klassischen Balletttechniken steht, die typischerweise darauf abzielen, eine Illusion von Schwerelosigkeit zu erzeugen. Um den eher perkussiven und stakkatoartigen Bewegungen entgegenzuwirken, fügte Graham schließlich die Spiralform zum Vokabular ihrer Technik hinzu, um ein Gefühl der Fluidität einzubauen.
Neue Ära im Tanz
Nach ihrem ersten Konzert, das aus Soli bestand, Graham schuf Heretic (1929), das erste Gruppenstück von vielen, das eine deutliche Abkehr von ihren Tagen mit Denishawn zeigte und als Einblick in ihr zukünftiges Werk diente. Das Stück, das aus engen und scharfen Bewegungen bestand und in dem die Tänzer unglamourös gekleidet waren, drehte sich um das Thema der Ablehnung – ein Thema, das in anderen Graham-Werken immer wieder auftauchen sollte.
Mit der Zeit entfernte sich Graham von der strengen Design-Ästhetik, die sie anfangs verfolgte, und begann, aufwändigere Bühnenbilder und Kulissen in ihre Arbeit einzubauen. Um dies zu erreichen, arbeitete sie oft mit Isamu Noguchi zusammen – einem japanisch-amerikanischen Designer – dessen Auge für Bühnenbilder eine komplementäre Ergänzung zu Grahams Choreografie darstellte.
Unter den vielen Themen, die Graham in ihre Arbeit einfließen ließ, gab es zwei, an denen sie am meisten festzuhalten schien – Amerika und die griechische Mythologie. Eines von Grahams bekanntesten Stücken, das das Thema des amerikanischen Lebens einbezieht, ist Appalachian Spring (1944). Sie arbeitete mit dem Komponisten Aaron Copland – der für seine Arbeit an dem Stück einen Pulitzer-Preis gewann – und Noguchi zusammen, der das nicht-literarische Bühnenbild schuf. Wie so oft platzierte sich Graham in ihrem eigenen Stück als Braut eines frisch verheirateten Paares, deren Optimismus, ein neues gemeinsames Leben zu beginnen, von einer geerdeten Pionierin und einem Predigt haltenden Erweckungsprediger konterkariert wird. Zwei von Grahams Stücken – Cave of Heart (1946) und Night Journey (1947) – zeigen ihre Auseinandersetzung nicht nur mit der griechischen Mythologie, sondern auch mit der Psyche einer Frau, da beide Stücke griechische Mythen aus der Sicht einer Frau nacherzählen.
1936 schuf Graham Chronicle, das ernste Themen auf dramatische Weise auf die Bühne brachte. Beeinflusst vom Wall-Street-Crash 1929, der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise und dem Spanischen Bürgerkrieg, konzentrierte sich der Tanz auf Depression und Isolation, was sich in der düsteren Natur des Bühnenbildes und der Kostüme widerspiegelt.
Im selben Jahr, in Verbindung mit den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin, wollte die deutsche Regierung den Tanz in die Kunstwettbewerbe einbeziehen, die während der Olympiade stattfanden, ein Ereignis, das zuvor Architektur, Bildhauerei, Malerei, Musik und Literatur umfasste. Obwohl Josef Goebbels, Reichspropagandaminister, die moderne Tanzkunstform nicht schätzte und den deutschen Tanz von eher avantgardistisch zu traditionell veränderte, stimmten er und Adolf Hitler dennoch zu, Graham einzuladen, die Vereinigten Staaten zu vertreten. Dies führte dazu, dass die Vereinigten Staaten bei den Kunstwettbewerben nicht vertreten waren, da Martha Graham die Einladung mit den Worten ablehnte,
Ich fände es unmöglich, zur Zeit in Deutschland zu tanzen. So viele Künstler, die ich respektiere und bewundere, sind verfolgt worden, wurden aus lächerlichen und unbefriedigenden Gründen des Rechts zu arbeiten beraubt, dass ich es für unmöglich halten würde, mich durch die Annahme der Einladung mit dem Regime zu identifizieren, das solche Dinge möglich gemacht hat. Außerdem würde ein Teil meiner Konzertgruppe in Deutschland nicht willkommen sein.
Josef Goebbels selbst schrieb ihr einen Brief, in dem er ihr versicherte, dass ihre jüdischen Tänzer „völlige Immunität“ erhalten würden, doch das reichte Graham nicht, um die Einladung anzunehmen.
Stimuliert von den Ereignissen der Olympischen Spiele 1936 und der Propaganda, die sie durch das Radio von den Achsenmächten hörte, kreiert Martha Graham 1938 American Document. Der Tanz drückt die amerikanischen Ideale und die Demokratie aus, da Graham erkannte, dass er die Menschen ermutigen und zum Kampf gegen faschistische und nazistische Ideologien inspirieren könnte. American Document wurde zu einem patriotischen Statement, das sich auf die Rechte und Ungerechtigkeiten der damaligen Zeit konzentrierte und das amerikanische Volk einschließlich seines indianischen Erbes und der Sklaverei darstellte. Während der Aufführung wurden Auszüge aus der Unabhängigkeitserklärung, Lincolns Gettysburg Address und der Emancipation Proclamation verlesen. Dies waren Passagen, die die amerikanischen Ideale hervorhoben und das repräsentierten, was das amerikanische Volk amerikanisch machte. Für Graham musste ein Tanz „bestimmte nationale Charakteristika offenbaren, denn ohne diese Charakteristika hätte der Tanz keine Gültigkeit, keine Wurzeln, keinen direkten Bezug zum Leben.“
Der Beginn von American Document markiert moderne Konzepte der Performance-Kunst, die Tanz, Theater und Literatur verbinden und die Rollen des Zuschauers und der Schauspieler/Tänzer klar definieren. Der Erzähler/Schauspieler beginnt damit, „ein Bewusstsein für den gegenwärtigen Ort und die Zeit zu schaffen, das nicht nur als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch zwischen Individuum und Kollektiv, dem Besonderen und dem Allgemeinen dient“. Zusammen mit ihrer einzigartigen Technik macht diese soziologische und philosophische Innovation den Tanz zu einem klaren Ausdruck aktueller Ideen und Orte und Graham zu einer Säule der modernen Tanzrevolution.
1938 wurde ein großes Jahr für Graham; die Roosevelts luden Graham ein, im Weißen Haus zu tanzen, womit sie die erste Tänzerin war, die dort auftrat. Ebenfalls 1938 wurde Erick Hawkins der erste Mann, der in ihrer Kompanie tanzte. Im folgenden Jahr trat er offiziell ihrer Truppe bei und tanzte die männliche Hauptrolle in einer Reihe von Grahams Werken. Sie heirateten im Juli 1948 nach der New Yorker Premiere von Night Journey. Er verließ ihre Truppe 1951 und sie ließen sich 1954 scheiden.
Am 1. April 1958 brachte die Martha Graham Dance Company das Ballett Clytemnestra zur Uraufführung, das auf der altgriechischen Sage Klytemnestra basiert und zu einem großen Erfolg und einer großen Leistung für Graham wurde. Mit einer Partitur des in Ägypten geborenen Komponisten Halim El-Dabh war dieses Ballett ein groß angelegtes Werk und die einzige abendfüllende Arbeit in Grahams Karriere. Graham choreographierte und tanzte die Titelrolle und verbrachte fast die gesamte Dauer der Aufführung auf der Bühne. Das Ballett basiert auf der gleichnamigen griechischen Mythologie und erzählt die Geschichte der Königin Klytemnestra, die mit König Agamemnon verheiratet ist. Agamemnon opfert ihre Tochter Iphigenie auf einem Scheiterhaufen, als Opfergabe an die Götter, um sich gute Winde nach Troja zu sichern, wo der Trojanische Krieg tobt. Als Agamemnon nach 10 Jahren zurückkehrt, tötet Klytemnestra Agamemnon, um den Mord an Iphigenie zu rächen. Klytemnestra wird dann von ihrem Sohn Orestes ermordet, und das Publikum erlebt Klytemnestra im Jenseits. Das Ballett galt als ein Meisterwerk der amerikanischen Moderne des 20. Jahrhunderts und war so erfolgreich, dass es in begrenztem Umfang am Broadway gezeigt wurde.
Graham arbeitete mit vielen Komponisten zusammen, darunter Aaron Copland bei Appalachian Spring, Louis Horst, Samuel Barber, William Schuman, Carlos Surinach, Norman Dello Joio und Gian Carlo Menotti. Grahams Mutter starb 1958 in Santa Barbara. Ihr ältester Freund und musikalischer Mitstreiter Louis Horst starb 1964. Sie sagte über Horst: „Seine Sympathie und sein Verständnis, aber vor allem sein Glaube, gaben mir eine Landschaft, in der ich mich bewegen konnte. Ohne ihn wäre ich sicherlich verloren gewesen.“
Graham widersetzte sich Anfragen, ihre Tänze aufzunehmen, weil sie glaubte, dass Live-Performances nur auf der Bühne existieren sollten, so wie sie erlebt werden. Es gab ein paar bemerkenswerte Ausnahmen. So arbeitete sie neben ihrer Zusammenarbeit mit Sunami in den 1920er Jahren in begrenztem Umfang auch mit den Standfotografen Imogen Cunningham in den 1930er Jahren und Barbara Morgan in den 1940er Jahren zusammen. Graham betrachtete Philippe Halsmans Fotografien von Dark Meadow als die vollständigste fotografische Aufzeichnung von einem ihrer Tänze. Halsman fotografierte in den 1940er Jahren auch Letter to the World, Cave of the Heart, Night Journey und Every Soul is a Circus. In späteren Jahren entwickelte sich ihr Denken in dieser Angelegenheit weiter und andere überzeugten sie davon, dass sie etwas von dem, was verloren gegangen war, wiederherstellen durfte. 1952 erlaubte Graham die Aufzeichnung ihrer Begegnung und ihres kulturellen Austauschs mit der berühmten taubblinden Autorin, Aktivistin und Dozentin Helen Keller, die nach einem Besuch bei einer der Proben von Grahams Ensemble eine enge Freundin und Unterstützerin wurde. Graham wurde von Kellers Freude am und Interpretation des Tanzes inspiriert, indem sie ihren Körper nutzte, um die Vibration der Trommeln, den Klang der Füße und die Bewegung der Luft um sie herum zu spüren.
In ihrer Biographie Martha, Agnes de Mille gibt an, dass Grahams letzter Auftritt am Abend des 25. Mai 1968 in Time of Snow stattfand. Aber in A Dancer’s Life listet der Biograf Russell Freedman das Jahr von Grahams letzter Aufführung als 1969 auf. In ihrer 1991 erschienenen Autobiografie Blood Memory gibt Graham selbst ihre letzte Aufführung als ihren Auftritt in Cortege of Eagles 1970 an, als sie 76 Jahre alt war. Grahams Choreographien umfassen 181 Kompositionen.