Die minoische Linear-A-Schrift ist eine noch nicht entzifferte Schrift, die hauptsächlich auf der Insel Kreta von 1700 bis 1400 v. Chr. verwendet wurde. Eine neue Studie, die im Journal of Archaeological Science veröffentlicht wurde, wirft Licht auf eines der rätselhaftesten Merkmale von Linear A – die genauen mathematischen Werte ihres Systems numerischer Brüche (wie 1/2, 1/4, 1/8).
Links: Linear A Bruchzeichen und ihre Standardtranskription. Rechts: Linear A Tontafel HT 104. Bildnachweis: Archäologisches Museum Heraklion und das griechische Ministerium für Kultur und Sport, Archaeological Resources Fund / Corazza et al, doi: 10.1016/j.jas.2020.105214.
Linear A ist eine logosilbische Schrift, die auf dem bronzezeitlichen Kreta für administrative Zwecke verwendet wurde. Zusammen mit der kretischen Hieroglyphe ist sie eines von zwei Schriftsystemen, die von der minoischen Zivilisation geschaffen wurden.
Nach ihrer Vorlage schufen die Mykener später die Linear B-Schrift, um ihren Dialekt des Altgriechischen zu registrieren.
Heute umfasst der Linear A-Korpus mehr als 7.400 Zeichen auf 1.527 Inschriften, von denen 90 % Tondokumente administrativer Natur sind, wie Tafeln, Rondelle und Knollen.
Bei den numerischen Notationen verwendet Linear A ein Dezimalsystem, wobei die Zeichen vier Größenordnungen darstellen: Einheiten werden mit vertikalen Strichen, Zehner mit horizontalen Strichen oder Punkten, Hunderter mit Kreisen und Tausender mit von Strichen umgebenen Kreisen geschrieben.
Das System ist kumulativ und additiv, und Zahlen werden von links nach rechts mit den Potenzen in absteigender Reihenfolge geschrieben: So würde z.B. 6.352 mit sechs ‚1.000‘-Zeichen, drei ‚100‘, fünf ’10‘ und zwei ‚1‘ geschrieben werden.‘
Linear A enthält auch einen Satz von 17 Zeichen, die für Brüche stehen. Sie werden durch Großbuchstaben transkribiert: A, B, D, E, F, H, J, K, L, L2, L3, L4, L6, W, X, Y und Ω.
Um Licht in die Werte dieser Brüche zu bringen, konzentrierten sich die Professorin Silvia Ferrara von der Universität Bologna und ihre Kollegen auf einen bestimmten Satz von Linear-A-Dokumenten, die auf die spätminoische I-Periode (ca. 1600-1450 v. Chr.) datiert wurden.
„Wir zielten darauf ab, das Problem durch eine Linse zu lösen, die verschiedene Forschungsstränge kombiniert, die sehr selten miteinander verbunden sind: enge paläographische Analyse der Zeichen und Computermethoden“, sagte Professor Ferrara.
„Auf diese Weise erkannten wir, dass wir Informationen aus einer neuen Perspektive erschließen können.“
Die Forscher wendeten eine Methode an, die die Analyse der Zeichenformen und ihre Verwendung in den Inschriften mit statistischen, rechnerischen und typologischen Strategien kombiniert, um den Linear-A-Zeichen für Brüche mathematische Werte zuzuordnen.
Sie untersuchten die Regeln, denen die Zeichen auf den Tontafeln und anderen Buchhaltungsdokumenten folgen.
Um die möglichen Werte jedes Bruchzeichens zu untersuchen, schlossen sie mit Hilfe von Berechnungsmethoden unmögliche Ergebnisse aus.
Dann wurden alle möglichen Lösungen – fast vier Millionen – auch durch Vergleich von Brüchen, die in der Weltgeschichte häufig vorkommen (z.B.,
Schließlich wendeten sie weitere Strategien an, die die Vollständigkeit und Kohärenz der Brüche als System berücksichtigten und auf diese Weise die besten Werte mit den geringsten Redundanzen identifizierten.
Das Ergebnis war in diesem Fall ein System, dessen niedrigster Bruchteil 1/60 ist und das die Fähigkeit zeigt, die meisten Werte des Typs n/60 darzustellen.
„Unsere Ergebnisse erklären, wie das Linear-B-Skript einige dieser Brüche wiederverwendet, um Maßeinheiten auszudrücken“, so die Autoren.
„Die Ergebnisse legen nahe, dass zum Beispiel das Linear A-Zeichen für 1/10 angepasst wurde, um eine Kapazitätseinheit zum Messen von Trockenprodukten darzustellen, die wiederum 1/10 einer größeren Einheit war.“
„Dies erklärt eine historische Kontinuität der Verwendung von Brüchen zu Maßeinheiten über zwei verschiedene Kulturen hinweg.“
Michele Corazza et al. The mathematical values of fraction signs in the Linear A script: A computational, statistical and typological approach. Journal of Archaeological Science, online veröffentlicht am 7. September 2020; doi: 10.1016/j.jas.2020.105214