Sexuelle Vorlieben sind nicht in Stein gemeißelt und können sich im Laufe der Zeit ändern, oft abhängig von der unmittelbaren Situation, in der sich die Person befindet. Dies wird als sexuelle Fluidität bezeichnet. Wenn sich zum Beispiel jemand als heterosexuell identifiziert, sich dann aber in einer Umgebung befindet, in der es nur Menschen des gleichen Geschlechts gibt, kann er eine verstärkte sexuelle oder romantische Anziehung zu diesen gleichgeschlechtlichen Partnern verspüren. Wie jedes andere soziale Merkmal können auch sexuelle Präferenzen, Einstellungen, Verhaltensweisen und die Identität bis zu einem gewissen Grad flexibel sein.
Ein weiteres verwandtes Konzept, die erotische Plastizität, ist definiert als Veränderung des sexuellen Ausdrucks von Menschen – also ihrer Einstellungen, Vorlieben und ihres Verhaltens. Mit anderen Worten: Die sexuelle Reaktion eines Menschen kann je nach Umgebung schwanken.
Nur weil es zu Veränderungen kommt, heißt das nicht, dass die Sexualität von Frauen oder Männern seltsam oder, wie in Slate argumentiert wurde, „verwirrend, mysteriös oder übermäßig kompliziert“ ist.
Einige Menschen haben sich über Forscher aufgeregt, die „sexuelle Fluidität“ untersuchen, weil die Verwendung des Begriffs „Variabilität“ in der englischen Sprache ein Synonym für „Sprunghaftigkeit“ und „Launenhaftigkeit“ ist, was, wenn es zur Beschreibung von Frauen verwendet wird, sexistisch klingen kann. Aber eine sorgfältige Lektüre der wissenschaftlichen Literatur zeigt, dass es keine Implikation gibt, dass Frauen rätselhafter sind als Männer, wenn es um Sexualität geht.
Nicht dasselbe wie Bisexualität
Die meisten Menschen würden sagen, sie haben eine sexuelle Orientierung. Aber der Grad, in dem eine Person sexuell fluid ist, ist eine separate Variable, die neben der sexuellen Orientierung funktioniert. Manche Menschen sind hochgradig fluid, andere weniger.
Sexuelle Fluidität kann bei Menschen auftreten, die definitiv heterosexuell oder homosexuell sind, aber einfach eine Veränderung in ihrer sexuellen Reaktion erleben. Zum Beispiel können Sie eine Vorliebe für einen eher weiblichen Typ Mensch haben, aber dann jemanden entdecken, der Sie auf eine neue und aufregende Weise anspricht. Vielleicht bevorzugen Sie immer noch Partner desselben Geschlechts mit den gleichen weiblichen Neigungen wie vorher, aber mit mehr männlichen Zügen.
Oder vielleicht sehnen Sie sich nach einer anderen Art von Sex. Stellen Sie sich eine Person vor, die normalerweise nur Sex in der Missionarsstellung mit einem Partner will, dann aber in eine andere Umgebung zieht, in der andere Menschen mehrere Partner haben und abenteuerlichere Sexualpraktiken ausüben, und diese nun auch ausüben will. Diese Person hat auch sexuelle Plastizität erfahren.
Bisexualität ist definiert als die romantische oder sexuelle Anziehung zu anderen Menschen, die sich entweder als männlich oder weiblich identifizieren („bi“ bedeutet zwei Geschlechter). Wenn Sie Menschen fragen, die sich als heterosexuell identifizieren, dann aber Sex mit jemandem des gleichen Geschlechts haben, macht diese Erfahrung sie nicht unbedingt „bisexuell“, aber es macht sie sexuell flüssig.
Forschungen von Lisa Diamond enthalten Beispiele von Frauen, die sich in ihrem Leben als überwiegend heterosexuell identifizieren, sich aber tief in eine bestimmte Frau verlieben, während sie sich weiterhin als heterosexuell identifizieren. Das bedeutet nicht, dass diese Frauen bisexuell sind. Sie haben eine solche Verliebtheit nur für eine einzelne Person entwickelt, die zufällig das gleiche Geschlecht hat.
Längsschnittliche Untersuchungen zeigen, dass Menschen manchmal ihre sexuelle Orientierung ändern. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn es bedeutet, dass wir nicht alles in einen Topf werfen und es „Bisexualität“ nennen können. Es wäre kontraproduktiv, all diese verschiedenen Verhaltensweisen als „bisexuell“ zu bezeichnen, weil es die wissenschaftliche Forschung über die wahren Ursprünge und Varianten der sexuellen Orientierung sowie die sexuellen Ergebnisse und Ausprägungen behindern würde.
Außerdem unterscheidet sich die romantische Bindung grundlegend vom sexuellen Verlangen. In den Worten von Diamond: „Man kann sich verlieben, ohne sexuelles Verlangen zu empfinden“.
Männer vs. Frauen
Wenn man sich die Daten ansieht, beginnt sich ein Bild zu ergeben, dass Frauen als Gruppe dazu neigen, sexuell fluider zu sein als Männer. Zum Beispiel haben Frauen, die sich als lesbisch identifizieren, signifikant häufiger heterosexuellen Sex als Männer, die sich als schwul identifizieren und heterosexuellen Sex haben. Heterosexuelle Frauen haben signifikant häufiger einvernehmlichen Sex mit weiblichen Partnern in Gefängnissen als heterosexuelle Männer im Gefängnis.
Aber natürlich sind dies statistische Assoziationen, die völlig relativ sind, und die Ergebnisse sagen nichts über alle Frauen oder alle Männer aus. Es gibt viele Männer und Frauen, die überhaupt keine Anzeichen von sexueller Fluidität zeigen.
Es gibt einige neuere Arbeiten, die sich mit männlicher sexueller Fluidität beschäftigen. Nehmen wir eine Studie aus dem Jahr 2006, in der Männer gebeten wurden, über ihre sexuellen Erfahrungen in den letzten 12 Monaten zu berichten. Die Ergebnisse zeigten, dass sich unter den Männern, die Sex mit Männern hatten, ein höherer Prozentsatz als „heterosexuell“ identifizierte als als „schwul“, und fast keiner identifizierte sich als bisexuell. Dies könnte ein weiteres Beispiel für die sexuelle Fluidität von Männern sein.
Die menschliche Sexualität soll nicht einfach und geradlinig sein. Wenn Psychologen behaupten würden, dass der Grad der Introvertiertheit oder des Neurotizismus – zwei der „Big Five“-Persönlichkeitsmerkmale – bei Menschen im Laufe der Zeit schwankt, würde das vielleicht intuitiv offensichtlich und unumstritten erscheinen. Da es sich aber um geschlechtsspezifische Variablen handelt, könnte man annehmen, dass sie über die Zeit stabil sind. Das ist jedoch eine unwissenschaftliche Art, das Thema zu betrachten.